Planung und die StVO

Der Straßenverkehr ist ein tolles Beispiel, um Dinge über komplexe Sachverhalte in Unternehmen zu lernen: Es gibt viele Regeln, unabhängige Agenten und ein geteiltes Ziel: Dort sicher ankommen, wo man hin will.

 

Im Straßenverkehr

Als ich neulich mit unserem Baby und unserem Hund durch die Stadt laufe, wollte ich eigentlich nur kurz Kaffee kaufen und für eine ausreichende Auslastung unseres pubertierenden Hunds sorgen. Auf dem Rückweg vom Kaffeeladen muss ich eine Straße kreuzen, direkt an einer Rechts-vor-links-Kreuzung – kein Problem eigentlich. Mir entgegen kommt ein roter Wagen mit höherer Geschwindigkeit und will in die Straße einbiegen, die ich gerade überqueren will. Der Wagen muss bremsen und mich vorbeilassen. Daraufhin drückt der Fahrer auf die Hupe, scheucht meinen Hund auf und weckt beinahe mein Baby. Nachdem ich ihm zeige, was ich von der Situation halte, wedelt er abfällig und hektisch mit der Hand und schon braust er erbost weiter.

Warum erzähle ich eine normale Situation aus dem Alltag im Straßenverkehr? Kurz nach der Situation habe ich Parallelen zu Planung und Verhalten in Unternehmen gefunden.

Vorrang und Vorfahrt

Zu allererst: Ich war mir in der Situation sehr sicher, dass ich Vorrang habe – als Motorradfahrer muss ich ja immer gucken, wer mich über den Haufen fahren könnte. Ich denke also nicht nur meinen eigenen Weg nach und reagiere auf andere, sondern spiele kontinuierlich auch die möglichen Denkweisen und Perspektiven anderer in meinem Kopf durch und agiere so, dass sie mich sehen und beachten können.

Ich habe trotzdem mal in der StVO nachgeschaut. Dort steht in §9, Absatz 3:

 

»Wer abbiegen will, muss entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen, Schienenfahrzeuge, Fahrräder mit Hilfsmotor und Fahrräder auch dann, wenn sie auf oder neben der Fahrbahn in der gleichen Richtung fahren. Dies gilt auch gegenüber Linienomnibussen und sonstigen Fahrzeugen, die gekennzeichnete Sonderfahrstreifen benutzen. Auf zu Fuß Gehende ist besondere Rücksicht zu nehmen; wenn nötig, ist zu warten.«

 

Der Herr im roten Wagen war sichtlich erzürnt(*), dass ich es wagte, mein Recht auf Vorrang wahrzunehmen, OBWOHL ich ja nur mit Kind und Hund unterwegs war. Er schien unter Zeitdruck zu sein. Ich kann aufgrund des Wagens und des Aussehens des Fahrers annehmen, dass er Geschäftsmann war, der auf dem Weg zu einem wichtigen Termin war.

Sein Zeitdruck rechtfertigte ihm gegenüber, dass er mich anhupte und auf sein (in dieser Situation nicht existierendes) Recht auf Vorfahrt pochte.

Was hat das nun mit Planung zu tun?

Zwei Dinge sind hier wichtig: Vorhersage und realistische Planung. In diesem Kontext bedeutet Vorhersage, dass man den Weg so kalkulieren sollte, dass auch Dinge wie querende Fußgänger, Ampeln und kleinere, tageszeittypische Staus in die Planung einfließen. Wenn sie nicht auftreten, ist man auf jeden Fall zur richtigen Zeit da. Falls sie aber doch eintreten, so gefährdet man niemanden aufgrund der eigenen Eile und kommt trotzdem mit hoher Wahrscheinlichkeit pünktlich. Man sollte also nicht den optimalen Fall von Durchlaufzeit in der Planung annehmen, sondern einen realistischen. Je wichtiger der Termin, desto pessimistischer darf man auch schon sein.

Jetzt sprach ich gerade von Durchlaufzeit – ein beliebtes Planungsmaß in der Kanban-Welt – und nicht von Schätzungen. Es bringt uns nämlich rein gar nichts, wenn wir die ideale Zeit für die Fahrt annehmen: Wie schnell benötige ich von A nach B, nachts um halb 4, in der Woche. Da kommt es natürlich nur noch darauf an, wie schnell ich fahre. Am Tag, unter normalen Bedingungen (so auch im Projekt), kommt es darauf an, wie häufig Störungen und Blockaden auftauchen.

Diese Vorhersage ist aber eine schwierige Sache: Eigentlich müssten wir die selbe Strecke immer und immer wieder zu unseren typischen Zeiten fahren und die Zeit messen, wie lange wir von A nach B benötigen. Die Daten dann aggregieren und wir bekommen eine Wahrscheinlichkeitsverteilung über die Durchlaufzeit. Wir können also bestimmen, mit wie viel Vorlauf wir losfahren müssten, um mit 70%, 80%, oder 95% Wahrscheinlichkeit pünktlich zu kommen. Zum Glück(**) wird das für Strecken und Autofahrten durch Google übernommen und auch Apple sammelt solche Daten.

 

Im Arbeitsleben und im Projekt müssten wir diese Daten auch erheben, wenn wir diese Verteilungen haben möchten. Das ist es aber auch wert, weil wir damit Daten über reale, systembedingte Durchlaufzeiten bekommen. Die sind nämlich besser für die Planung als idealistische Schätzungen, dazu gleich mehr. Und wo wir schon mal dabei sind: Schätzungen haben oft nicht viel mit der Realität zu tun, insbesondere bei Storypoints.

Realistische Planung

Kommen wir zur realistischen Planung. Man könnte über den Herren im roten Wagen nun einfach hinwegsehen mit einem nonchalanten „Naja, er hat sich halt verschätzt.“ Aber der Fahrer hat mein Baby, mich und meinen Hund gefährdet, weil er schlecht geplant hat. Es wäre großzügig, den Vorfall gänzlich beiseite zu wischen, und ich habe mich drei Minuten nach dem Vorfall auch eher über die Idee zum Blogartikel gefreut als mich weiter zu ärgern. Aber das Verhalten lässt sich viel zu häufig auch in Unternehmen beobachten: zu optimistisches Planen, der Planende gerät unter Stress und übt Druck auf die Mitarbeiter aus. Die ertragen es – es ist ja wichtig – und gefährden sich selbst. Der Planende merkt, dass es mit Druck „besser“ geht und akzeptiert auch für die Zukunft zu optimistische Planungen und verlässt sich auf die ideale Bearbeitungszeit, nachts um halb vier, wenn alle Ampeln ausgeschaltet sind. Das System ist über Kapazität beansprucht und viele Projekte bekommen „eingebaute Vorfahrt“.

Allerdings ist es so: Ein System oberhalb der Kapazitätsgrenze zu fahren führt im Autoverkehr zu Staus und Unfällen, im Internet zu Serverzusammenbrüchen (so funktionieren Denial-of-Service-Attacken) und in Firmen zu sich behindernden Projekten und unzufriedenen Kunden. Was sagt der Kunde wohl zum Geschäftsmann im roten Wagen, wenn dieser zu spät kommt? Er wird ihn wohl für unzuverlässig halten. Die meisten Menschen wissen auch intuitiv, dass diese Dinge gelten, handeln aber gegensätzlich.

 

Senken wir die Last auf dem System aber bewusst auf die Kapazitätsgrenze, werden einige Sachen vielleicht draußen bleiben müssen. Das bedeutet wiederum, dass man sehr hart priorisieren muss, um nur die wichtigsten und wertvollsten Dinge durch das Arbeitssystem zu bekommen. Natürlich wird sich der Fahrer des roten Wagens für wichtig gehalten haben, aber vielleicht hätte er seine persönliche Priorisierung an diesem Tag anpassen müssen, um die wichtigsten Dinge fertig zu bekommen. Das gilt insbesonders, wenn er uns als Fußgänger nicht gefährden will.

Fazit

Realistische Planung in Unternehmen benötigt die Begrenzung auf die wichtigen Dinge und Messungen über tatsächliche Bearbeitungsdauern statt idealisierte Schätzungen. Damit macht man Kunden glücklicher als mit der Gefährdung der Mitarbeiter oder durch Enttäuschung durch nicht eingehaltene Termine.

Übrigens…

Die StVO hat sogar eine „eingebaute Vorfahrt“: § 35 „Sonderrechte“. Diese Sonderrechte dürfen aber nur dann ausgeübt werden, „soweit das zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist.“ (Absatz 1). Schlechte Planung ist keine generell akzeptable Entschuldigung, Sonderrechte für sich in Anspruch zu nehmen.

Fußnoten

(*) Ich treffe hier Annahmen, die ich nicht mehr validieren kann. Der Fahrer hatte augenscheinlich keine Lust, sich mit mir über die Situation zu unterhalten.

(**) Je nach Sichtweise. Für unsere Wahrscheinlichkeitsverteilungen bei Strecken ist es sicher der bessere Weg. Für die eigene Privatsphäre vielleicht nicht.

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