Das Daily an der Wurzel packen

"Hat dieses Treffen für EUCH eigentlich irgendeinen wahrnehmbaren Wert?", fragte neulich ein Teamleiter bei meinem Kunden seine Mitarbeiter nach dem Treffen. Betretenes Schweigen. Wie soll man darauf schon antworten? Die Spannung stieg, aber der Teamleiter hielt es aus.

Dann, erlösend, sagte ein Teammitglied: "Nein. Wir machen das, weil wir dachten, es bringt dir etwas."

Welch ein Mut bei beiden! Beim Teamleiter, weil er kritisch sein bisheriges Vorgehen hinterfragte und beim Teammitglied, weil er darauf vertraute, dass keine Strafe folgen würde. Dabei hatte mich der Teamleiter vorher nur kurz gefragt, was ich von ihrem Standup hielt. Meine Antwort war wieder eine Frage: "Müssen die eigentlich bei ihren Aufgaben zusammenarbeiten?"

"10 Tipps, um das Daily Scrum zu verbessern", "Wie bekomme ich hin, dass alle sich beteiligen?" und "Die Teammitglieder gucken den ScrumMaster an beim Daily Scrum – was tun?": Tipps zum Daily Scrum oder Standup gibt es ziemlich viele. Viele davon beschäftigen sich damit, gewünschtes Verhalten durch Interventionen während des Meetings zu erzeugen. Die meisten dieser Tipps sind gut gemeint, aber völlig sinnlos. Mangelnde Beteiligung, Desinteresse, Reporting etc. sind kein Verhaltensproblem einzelner Mitarbeiter oder sogar ganzer Teams, sondern ein systemisches Problem: Die meisten Teams oder Abteilungen wissen gar nicht so recht, warum sie da vor einem Board oder einem elektronischen Werkzeug unbequem zusammen stehen sollen und sich gegenseitig erklären, wer denn nun was gemacht hat und was man sich so vornimmt.

Dabei wird das tägliche Standup wie ein Cargo-Kult angewendet: Verhalten wir uns nur konform zu den Regeln und imitieren ein bestimmtes, erwünschtes Verhalten, werden gute Dinge passieren. Und häufig gibt es noch einen teuren, externen Coach, der bestimmte Verhaltensmuster aktiv einfordert ohne dass sie klar sind.

Der Effekt ist im besten Fall, dass guten Dinge tatsächlich passieren. Die Wahrscheinlichkeit ist aber relativ gering. Etwas weniger anspruchsvoll: Im besten Fall wissen die Mitarbeiter endlich mal, was ihre Kollegen machen. Im schlechtesten Fall ist es einfach nur verschwendete Arbeitszeit und die Mitarbeiter werden aus ihren Denkprozessen gerissen und an ein Board gestellt.

Es gibt verschiedene Themen, über die man sich bei bzw. vor Einrichtung eines  Standups Gedanken machen sollte: Zusammenarbeit, Ziel, Konflikte und Teamempowerment.

Das richtige Werkzeug?

Die erste Frage, die man sich stellen sollte: Wird mit dem Standup ein Werkzeug zur Abstimmung und Kooperation in einem Kontext verwendet, in dem Kooperation evtl. gar nicht notwendig ist? Erledigen die Teammitglieder ihre Aufgaben unabhängig voneinander? Benötigen sie überhaupt Rücksprache und Abstimmung? Benötigen die Teammitglieder einander, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen?

Wenn die Antworten auf diese Fragen gegen einen täglichen Austausch sprechen, ist es kein Wunder, wenn das Daily "nicht funktioniert". Besteht keine Notwendigkeit zu einer engen Abstimmung, wird niemand interessiert den Ausführungen der Kollegen folgen: Jeder hat sein eigenes Problem. Und wenn jeder für sich selbst kämpft, schuldet er nur demjenigen Rechenschaft, der die Aufgaben verteilt: Häufig ein Teamleiter, Projektleiter oder in schlechten Scrum-Implementierungen der PO oder der ScrumMaster.

Empowerment

Bei vielen Positionen – speziell bei Führungspositionen – sprechen wir von Empowerment: Der Rolleninhaber soll die Möglichkeit und Erlaubnis haben, bestimmte Dinge selbst zu entscheiden. Dabei wird häufig das Team vergessen oder nur implizit angenommen, dass sie einer bestimmten Verantwortung nachkommen sollen. Scrum ist an diesem Punkt sehr explizit: Das Team ist verantwortlich für ein technisch erfolgreiches Produkt. Sollen sie in Verantwortung genommen werden, müssen sie diese Verantwortlichkeit auch annehmen können. In Umgebungen, in denen das entweder nicht geklärt ist oder die Veranwortlichkeit nicht im Team liegt, entsteht leicht ein Fokus auf diejenigen, die dieser Verantwortung dann nachkommen könnten: Häufig die Führungskräfte, die das früher auch gemacht haben. Das bedeutet wieder, dass keine Koordination und Entscheidungsfindung miteinander passiert, dass keine Verantwortung übernommen wird für die Dinge die getan werden müssen. Man scheut das Risiko, nicht-konforme Entscheidungen zu treffen.

Die Lösung ist relativ einfach: Es muss Klarheit herrschen darüber, wer welche Verantwortung für welche Entscheidung trifft. Soll die Verantwortung im Team liegen (sonst würde man sich über das Daily ja wahrscheinlich keine Gedanken machen), müssen die Mitarbeiter die Erlaubnis und Verantwortung bekommen. Was im Sinne der Veranwortungsübernahme extrem wichtig ist: Man darf sie aus dieser Verantwortung auch nicht einfach entlassen. Das bedeutet für Führungskräfte, eine unangenehme Ruhe bei Entscheidungen auszuhalten bzw. dem Team bei der Entscheidungsfindung zu helfen.

Eine Richtung

Ist klar, dass eine Zusammenarbeit notwendig ist, sollte geklärt werden, wofür denn kooperiert werden sollte. Teams, die kein klares, gemeinsames Ziel haben, sind häufig unfokussiert. Obwohl einige Abhängigkeiten auftreten, können diese meist im direkten Gespräch zwischen einzelnen Teammitgliedern geklärt werden. Der größere Teil der Arbeit wird aber alleine erledigt, was sich häufig auch in Planungs-Meetings widerspiegelt: Es wird auf die Auslastung einzelner geachtet statt den Erfolg des gesamten Teams im Blick zu behalten.

Auch hier ist klar: Das Daily Standup ist nur eine Show-Veranstaltung. Wenn die Abhängigkeiten schon geklärt sind, erzählt man sich gegenseitig nur den aktuellen Stand. Das ist aber nicht notwendig, weshalb nur wenig zugehört wird. Und Rechenschaft wird nicht gegenüber dem Team abgelegt, sondern wiederum dem Aufgabenverteiler. Tipps wie "Als Moderator aus der Runde ziehen!" oder "Die Teammitglieder daran erinnern, dass sie sich gegenseitig verantwortlich sind!" können hier nicht hilfreich sein. Wenn wir stattdessen den Teams ein gemeinsames Ziel geben, können sie dieses für sich entdecken und es annehmen. Sollten einzelne Personen dieses Ziel nicht annehmen wollen, können sie sie kaum dazu zwingen.

Hauen und Stechen

Manchmal gibt es Konflikte innerhalb eines Teams, die es schwierig machen, sich gegenseitig wertschätzend und produktiv zu begegnen. Auswirkungen im Daily Standup sind zurückgehaltene Informationen, wenig motivierter Austausch, Gruppenbildung und – ganz profan – häufiges Zuspätkommen. In eine unangenehme Atmosphäre voller Konflikte mag niemand gerne kommen und das äussert sich in unbewusstem Verhalten. Mit einem "wer 3x zu spät kommt, backt Kuchen" werden Sie nicht weit kommen: Bei Konflikten hat man selten Lust, den Konfliktparteien auch noch etwas Gutes zu tun oder akzeptiert Strafen oder Maßregelungen. So verändert man kein Verhalten, sondern verstärkt oder überträgt Konflikte auch noch.

Ein guter Moderator erkennt die Konflikte und geht diese außerhalb des Daily Standups an und versucht nicht, das Meeting selbst zu verbessern.

Fazit

Das Problem sind nicht die Praktiken. Meist liegt das Problem von defekten Stand-Ups tiefer. So lange nur Cargo-Cult betrieben wird, ändert sich nichts bzw. reift das Verständnis über Sinn und Zweck des Treffens nicht.

Gibt es Treffen, die bei Ihnen nicht funktionieren? Ich freue mich über Meetings und ihre Symptome in den Kommentaren!

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