Warum haptische Boards so cool sind

Haptische Boards: Aufwändig, unsexy, schwer in der Wartung. Und dafür ein Buy-In zu bekommen? Fast unmöglich. Dabei gibt es so viele gute Gründe für ein haptisches Board, zumindest anfänglich.

 

Ich empfehle meinen Kunden immer wieder, mit einem haptischen Kanban-Board zu beginnen. Das ist gerade zu Anfang extrem hilfreich!

 

Hier sind fünf Gründe, warum ich Boards aus Papier an der Wand hilfreicher finde als elektronische Werkzeuge:

 

1. Übersichtlichkeit  

Wenn wir es ernst meinen mit einer Kanban-Implementierung, modellieren wir für die Arbeitstypen den Workflow, den sie durchlaufen. Das geht über Todo-Doing-Done hinaus. Schnell können da sieben, acht oder zehn Spalten entstehen. Dazu kommen verschiedene Aufgabentypen oder Schwimmbahnen pro Kunden oder ähnliches. Wenn wir das auf einem normalen Bildschirm darstellen wollen, wird es schon manchmal unübersichtlich. Die typische Reaktion ist dann, weniger Spalten etc. anzuzeigen. Aber damit berauben wir uns wichtiger Informationen. Wir stellen das ja gerade aus dem Grund dar, dass wir den Fluss der Arbeit steuern wollen! An der Wand findet sich im Normalfall ausreichend Platz. Mobile Pinnwände leiden übrigens unter dem selben Problem wie Bildschirmmonitore – sie begrenzen ebenfalls sehr stark.

 

2. Sichtbarkeit

Früher hat man sich einen Knoten ins Taschentuch gemacht, wenn man an irgendetwas denken wollte. Quasi als Stolperstein. Das funktionierte, weil damals noch Stofftaschentücher verwendet wurden, die immer wieder aus der Tasche gezogen wurden und verwendet wurden. Sie wurden dem Benutzer also immer wieder vor Augen geführt.

Ähnlich verhält es sich mit haptischen Kanban-Boards. Ein großes, gut designtes Board mit geregeltem WIP macht Probleme im Fluss der Arbeit sehr schnell offensichtlich. Und da es nicht in einem Rechner versteckt ist, werden wir immer wieder mit der Nase auf unsere Probleme gestoßen. Wir können also nicht anders, als immer wieder über Abhängigkeiten, Blockaden und Warteschlangen zu reflektieren. Irgendwann ist es fast schon anstrengend! Und wenn es so richtig nervt, ändern wir vielleicht auch etwas am Zustand. 

 

3. Kommunikation durch Bewegung

Die Bewegung von Tickets ist eine wichtige Information, die möglichst viele mitbekommen sollten, die sich mit der Steuerung des Flusses beschäftigen. Szenario 1: Eine Mitarbeiterin klickt ein Ticket weiter auf „fertig“, überlegt und aktiviert dann das nächste zur Bearbeitung, alles an ihrem Rechner. Szenario 2: Die Mitarbeiterin steht auf und bewegt das fertige Ticket auf dem Kanban-Board, überlegt kurz, welches sie als nächstes zieht und bewegt dann das neue in die erste Bearbeitungsspalte. 

Welches dieser beiden Szenarien erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Information der Ticketbewegung wahrgenommen wird?

 

4. Einfache Modifizierbarkeit

Ich habe es schon in diesem Artikel geschrieben: Gerade am Anfang ändert sich das Verständnis des Workflows häufig noch mal. Oder die Modellierung wird angepasst, weil wichtige Informationen noch nicht ausreichend gut dargestellt werden. Das ist mit Klebezetteln, die bewegt werden, viel, viel einfacher als mit einem elektronischen Werkzeug. Die sind zwar mittlerweile auch super, aber die Hürde ist meiner Erfahrung nach doch niedriger bei einem Papierboard. Das Dumme ist: Wenn wir es nicht ändern, kommen wir eventuell nicht in den Genuss der Informationen, die wir suchen. Oder wir akzeptieren einen suboptimalen Workflow und halten uns dran, weil es ja im Tool schon drin ist...

 

5. Relevante Daten können sichtbar gemacht werden, Unnötiges bleibt weg

Ich bespreche in meinen Kanban-Schulungen immer auch das Ticketdesign. Was soll alles auf das Ticket? Das besprechen wir erst einmal ganz abstrakt. Und immer wieder wollen die Teilnehmer viele, viele Informationen auf die Tickets schreiben. Sie werden teilweise mit Quelle, Schätzung, detaillierter Beschreibung und so weiter völlig überladen. Warum? Weil man es ja könnte. Oder die Information interessant sein könnte. Wenn ich dann frage, ob sie das auch auf einen Klebezettel schreiben wollen, sinkt die Bereitschaft deutlich. Hier wird dann erst einmal nur die relevante Information hinzugefügt: Alles notwendige, um eine Pull-Entscheidung zu treffen, aber so wenig wie möglich. Es soll ja nicht anstrengend werden! Das haptische Board hilft uns also, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren und den Rest irgendwo anders zu lagern.

 

Nachteile gibt es natürlich auch

... die will ich nicht verschweigen.

 

1. Bewegung notwendig zum Aktualisieren

Wir müssen halt schon mal aufstehen, wenn wir das Board aktualisieren wollen. Das ist für einige Menschen ein Hinderungsgrund. 

 

2. Transparenz ist nicht immer leicht

Wenn wir ein Kanban-Board an der Wand hängen haben, könnte ja jemand vorbeikommen und den Zustand der Arbeit begutachten. Das ist nicht immer leicht, aber eigentlich wünschenswert. An diesem Punkt würde ich aber nicht insistieren, sondern erst einmal nachfragen, warum es so unangenehm ist. Vielleicht verstecken sich hier Gründe, die wir erst einmal beseitigen müssen, bevor wir uns an die Evolution der Arbeitsweisen begeben! 

Nur so als „unmögliche Anekdote“: Bei einem Kunden haben wir die Boards nicht auf den Flur stellen können. Es bestand die Angst, dass sich die unbeteiligten Kollegen einen Spaß machen würden, indem sie willkürlich Zettel verschieben. Hier haben wir offensichtlich ein extremes Problem mit der Professionalität, mit dem wir umgehen müssen. Klar, Spaß muss sein, aber hier stand ein potentiell substanzieller Schaden auf dem Spiel.

 

3. Metriken werden nicht automatisch nachgeführt

Ein nicht wegzudiskutierender Nachteil sind die Metriken. Sie müssen entweder per Hand gepflegt werden oder es muss parallel ein elektronisches System geführt werden. Das kann dann die relevanten Daten später ausspucken. Eine richtig schöne Lösung habe ich hier noch nicht gefunden.

 

4. Kontext wird nicht mitgeführt 

Ich habe es vorhin schon erwähnt: Eigentlich wollen wir die Tickets ja vollstopfen mit Informationen. Sie könnten ja relevant sein. Aber was ich vorhin als Nutzen verkauft habe, ist auch ein Nachteil. Es ist schlichtweg zu aufwändig, alle Informationen ordentlich mitzuführen. Wie im Punkt zuvor empfehle ich da ein sehr grundlegendes, elektronisches System, indem ich Kontext wie Kommentare, Screenshots etc. einfach mitführen kann. Wir „verlinken“ die elektronische Welt mit dem Papierticket dann über die elektronische ID, die auf den Klebezettel geschrieben wird.

 

5. Man muss sauber schreiben

Der letzte Nachteil sorgt in meinen Schulungen auch immer wieder für Diskussion. Sobald ein Flipchart, Haftnotizen oder schlichtweg ein Arbeitsblatt beschrieben werden soll, zucken alle zurück. Denn wer schreibt schon gerne per Hand – und dann noch leserlich? Auf einem Board, das alle sehen und beachten sollen, ist es aber unbedingt notwendig, dass wir lesen können, was darauf steht. Also: Alle zum Schreibtraining, es lohnt sich!

 

Fallen dir noch weitere Gründe für oder gegen haptische Boards ein? Dann schreib mir doch eine kurze Mail!

 


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Kommentare: 2
  • #1

    SCRUMschau (Montag, 11 März 2019 21:28)

    Es sprechen aus meiner Erfahrung viele Dinge gegen ein haptisches Board und für eine digitale Lösung (Ticket = Product Backlog Item):
    - Ortsgebunden: ein digitales Board ist überall dort, wo ein Beamer/Bildschirm ist. Ein haptisches Board ist nur in deinem Büro
    - zentrale Ablage aller relevanten Informationen: E-Mails, Excel-Tabellen, PDF und Powerpoint-Dateien, Links und Screenshots. Alles relevante zur Umsetzung kommen in das digitale Ticket. Und steht somit dem gesamten Team zur Verfügung. Keine Ahnung, wie man das im Ansatz mit einem haptischen Board umsetzen möchte
    - Dokumentationsaufwand: Alle Infos, die im "Ticket" gespeichert/vermerkt/abgelegt wurden sind auch viele Zeit danach noch auffindbar. Und ein Link aus dem Wiki auf das Ticket ist mit wenig Aufwand eine einfache und superschnelle Dokumentation. Keine Ahnung, wie man das im Ansatz mit einem haptischen Board umsetzen möchte. Abschreiben?
    - Möchte man fachliche "Akzeptanzkriterien" definieren, dann ist ein Postit einfach zu wenig.
    - In der Softwareentwicklung dokumentieren wir im SVN/GIT-Commit die Jira-Ticketnummer. Dank Bitbucket/Fisheye wird im Ticket direkt die zugehörigen Commits aufgelistet. Was schreibt man denn beim haptischen Board in das Commit? Nichts?
    - Jeder Mitarbeiter (Team intern oder extern z.B. Management) kann sich sein persönliches Dashboard erstellen und hat alle notwendigen Infos auf einem Blick. Keine dummen Powerpoint-/Excel-Statusreports.
    - laufende Ticketnummer. Eine eineindeutige Ticketnummer vereinfacht die Kommunikation. Auch ein Link auf das Ticket vereinfacht viel Erklärerei. Was verschickt man beim haptischen Board per Mail? Ein Foto vom Postit?
    - Changelists/Rechnungsstellung: mit wenigen Klicks ist die Liste der bearbeiteten Tickets erstellt. Schreibt man beim haptischen Board das sonst alles schön in eine Excel-Datei mit?

    Grüße
    @SCRUMschau http://scrumschau.wordpress.com/

  • #2

    Florian Eisenberg (Montag, 18 März 2019 18:16)

    Liebe/r @SCRUMschau,
    das ist korrekt und Sie haben teilweise Recht! Einige der angesprochenen Punkte habe ich ja sogar als Nachteile aufgeführt.

    Ich habe schon sehr erfolgreich – insbesondere mit Scrum-Teams – mit Menschen zusammengearbeitet, die nicht nur die Nachteile von Papier an der Wand, sondern insbesondere auch die Vorteile gespürt haben. Wenn ich nicht von den Vorteilen überzeugt wäre, würde ich sie nicht aufführen oder haptische Boards empfehlen.

    Dass elektronische Systeme zum Halten des Kontexts sinnvoll sind, wird wohl niemand verneinen. Man könnte das beispielsweise über Jira machen. Dann benötigt man nur einen ganz kurzen Workflow und einen Link zwischen Papierticket und elektronischem Ticket. Ich empfehle, die Ticketnummer einfach auf das Papier zu schreiben. Das ist schon vielfach erprobt... wir könnten fast von einer Best Practice sprechen. Na gut, es ist zumindest eine Good Practice. Ihre Punkte 2-8 werden zumindest damit gelöst.

    Einen Aspekt finde ich ungemein wichtig: Das (Kanban-) Board ist ein Steuerungs-, Koordinations- und Warnsystem. Es ist nur in zweiter Instanz ein Verwaltungswerkzeug. Das Board ist da, um den Flow zu sehen, um miteinander ins Gespräch über den aktuellen Zustand zu kommen und Risiken möglichst früh erkennen zu können. Es ist auch ein Katalysator für Veränderung im Verhalten. Das alles sind Aspekte, die in elektronischen Boards häufig unter den Tisch fallen. Die Dashboards, die Sie erwähnen, verleiten unter anderem dazu.
    Auch die Ortsgebundenheit empfinde ich per se nicht als Nachteil. Es kommt halt darauf an, wo die Steuerung geschieht. Haben wir es mit einer verteilten Steuerung zu tun, sollten wir die Informationen auch möglicherweise mit einem elektronischen Board verteilen – volle Zustimmung.

    Eine meiner Beobachtungen und Bewertungen möchte ich noch teilen, insbesondere weil Sie scrumorientiert sind: Je schneller Scrumteams elektronische Boards installieren, desto weniger implementieren sie wirklich Gedanken und Arbeitsweisen von Scrum.

    Viele Grüße
    Florian Eisenberg