Kill your darlings

Retrospektiven sind ein wichtiges, mächtiges Werkzeug, um Verbesserungen in unseren Arbeitssystemen voranzutreiben. Leider werden sie häufig nur sehr unproduktiv genutzt und man möchte lieber einer Blume beim Welken zusehen, als daran teilzunehmen. Dabei müssen wir eigentlich nur ein paar Dinge umstellen!

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Ich war jung und hatte eine Mission

Es gab mal eine Zeit, in der ich so gut wie jedem und jeder meiner Bekannten in meinem Arbeitsumfeld eine Frage stellte: "Wenn alle Teile von Scrum wegfallen würden bis auf eine Sache – was müsste unbedingt bleiben?" Die Antwort gibt Einblicke in die Prioritäten und Ansichten einer Person.

Meine Antwort war damals die Retrospektive. Ich bin überzeugt, dass sich mit Hilfe einer Retrospektive im Grunde alles rekonstruieren ließe, was wir so brauchen. Im Fall von Scrum wäre das ein Rahmenwerk für die Entwicklung komplexer Produkte mitsamt Review und Planung und so weiter.

Menschen, die etwas anderes antworteten, waren natürlich ahnungslos, hatten völlig falsch gesetzte Prioritäten und mussten dementsprechend überzeugt werden. Nunja. Ich bin mittlerweile ein paar Jahre älter und kann auf meinen jugendlichen Ungestüm, meinen missionarischen Eifer und ein gewisses Sendungsbewusstsein einigermaßen milde zurückblicken.

Heutzutage bin ich in vielen Unternehmen unterwegs, die Retrospektiven durchführen. Und bei einigen von ihnen habe ich den dringenden Impuls, die Abschaffung dieser Retrospektiven zu empfehlen. Kill your Darlings!

 

Ein Evergreen: Agile Retrospectives

2006 veröffentlichten Diana Larsen und Esther Derby ihr Buch Agile Retrospectives. Ich benutze es gerne immer mal wieder und gerade zum Einstieg in Retrospektiven empfehle ich es durchaus hin und wieder. In den letzten 13 Jahren hat sich ihr Vorgehensschema etabliert und ist um einige Techniken erweitert worden. Das Schema lautet:

  1. Den Raum öffnen / Die Bühne bereiten
  2. Daten sammeln
  3. Einsichten aus den Daten generieren
  4. Entscheiden, was getan wird
  5. Den Raum schließen / Den Bühnenvorhang wieder schließen

So weit, so gut, es ist alles recht sinnvoll. Insbesondere die Trennung des Datensammelns von der Interpretation ist hilfreich, genauso wie das Abtrennen der Maßnahmen.

Warum also empfehle ich, das abzuschaffen? Die Retrospektiven, die ich nicht zu selten zu sehen bekomme, haben wenig mit dem zu tun, was ich als gut investierte Zeit zur Reflexion ansehe. 

 

Eine kleine Geschichte über Retros

Damit du verstehst, was ich nicht als gut investierte Zeit ansehe, möchte eine kurze Episode meines Beraterlebens erzählen. 2012 hatte ich ein Engagement als Agile Coach in einem Teil eines Konzerns, der sich mit der Entwicklung innovativer Software beschäftigte. Ein Team von sechs Personen arbeitete nach Scrum, alle Rollen waren besetzt. Sie führten auch regelmäßige Retrospektiven durch! Der verantwortliche Manager bat mich aber, die Rolle des Prozessbegleiters zu übernehmen und auch die Retrospektiven zu moderieren. Er war mit der Entwicklung der Prozesse und der Geschwindigkeit im Team unzufrieden. Ich übernahm und führte in den folgenden Wochen drei Retrospektiven durch.

Am Ende der dritten Retrospektive kam einer der Entwickler zu mir und sagte: "Florian, so leid mir das jetzt tut, das zu sagen, aber du hast unsere Retrospektiven kaputt gemacht. Bevor du kamst, waren die toll! Wir hatten 1,5 Stunden Teamzeit, in denen wir mal so richtig schön über das Management und die Umgebung abziehen konnten und mal so richtig in Beziehung miteinander gehen konnten. Jetzt haben wir zwar am Ende zwei bis drei Maßnahmen – und ich sehe auch, dass die helfen werden, die Leistung zu verbessern – aber es fühlt sich gar nicht mehr nach Feel-good-Zeit an, sondern so zielorientiert!" Ich war vor den Kopf gestoßen! Ich, der die Retrospektive als wichtigsten Teil des Rahmenwerks ansah, soll sie kaputt gemacht haben!

Nach dem ersten Schock konnte ich mich aber darauf besinnen, warum wir eigentlich Retrospektiven durchführen: Die Verbesserung der Leistungsfähigkeit unseres Arbeitssystems. Das hatten sie vorher nicht gemacht, jetzt kamen Veränderungen heraus, von denen wir uns positive Effekte erwarteten.

 

Retrospektiven verbesserungswürdig

Solche Feel-good-Retrospektiven, wie sich der Kollege damals erhoffte, sind gar nicht so untypisch. Viele Retros drehen sich um zwischenmenschliche Themen und Konflikte mit der Außenwelt, die aber nicht adressiert werden. Da wird die Teamstimmung gemessen und die Zufriedenheit mit der Qualität und so weiter und so fort. Da werden, wenn es gut läuft, Entscheidungen über die Zusammenarbeit getroffen, die aber keine Auswirkung auf die Leistungsfähigkeit haben. Oder es wird zum x-ten Mal darüber gesprochen, wie ausgeliefert man den Rahmenbedingungen und insbesondere Manager_in XY sei. Wenn wir Glück haben, wird dem Prozessbegleiter noch delegiert, er/sie könne doch einmal unverbindlich adressieren, dass da etwas nicht so ganz optimal läuft. Ich musste mir mal eine Retrospektive ansehen, in der es darum ging, dass jemand immer wieder zu spät zum Daily Stand-Up kam. Gewäsch, halbherzig und mutloses Verhalten – das alles unter dem Schirm der Retrospektive. Mein Appell: Abschaffen! Das braucht niemand! Die Zeit, die wir dafür investieren, ist woanders besser verwendet. Wenn die Teammitglieder an dem Tag 1,5h früher nach Hause gingen, wäre manchen besser geholfen als mit solch einem Meeting.

Das ist aber eigentlich nicht meine Erwartungshaltung. Ich möchte die unproduktiven Retrospektiven abschaffen und stattdessen durch produktive ersetzen. Ob sie nun Retrospektiven heißen oder nicht, ist mir persönlich im Grunde egal. Allerdings haben Retrospektiven leider den ganz besonderen "Team only!"-Touch an sich: Larsen und Derby sprechen in ihrem Buch meist von "Team" und unterscheiden dieses Team auch noch von einem "Manager", der/die ggf. ebenfalls dabei ist. Auch der Scrum-Guide sagt, dass bei der Sprint-Retrospektive das Scrum-Team miteinander den Prozess verbessert. Da es in Scrum keine Manager gibt, können die rein logisch also nicht in der Retrospektive sein, falls sie doch existieren sollten. Ergo ist eine nachvollziehbare Schlussforderung: Die Retrospektive ist eine Team-Geschichte und Führungskräfte haben zwangsläufig draußen zu bleiben!

 

Produktive Prozessverbesserungstreffen

Also vielleicht nennen wir es einfach mal Prozessverbesserungstreffen, machen aber etwas ähnliches wie in der Retrospektive, nur in produktiv!

  • Wir laden diejenigen zur Teilnahme ein, die helfen können, Informationen zu sammeln, zu interpretieren, Verständnis zu erzeugen, Entscheidungen zu treffen oder Entscheidungen umzusetzen. Wir sorgen dafür, dass sie sich eingeladen fühlen und ihre Stimme gehört wird.
  • Wir sorgen als Prozessbegleiter und/oder Führungskräfte dafür, dass eine wertschätzende, sichere Umgebung entsteht, in der wir Dinge diskutieren können, die verbesserungsfähig sind.
  • Wir sammeln Daten oder steuern vorher gesammelte Daten bei, die uns helfen, ein realistisches Bild über die vergangene Zeit zu zeichnen. Dazu gehören auch Kundenstimmen, Meinungen von Führungskräften, Messdaten, etc.
  • Wir versuchen, ein Bild zu schaffen, das kohärent mit den gesehenen Daten ist.
  • Wir identifizieren Interventionspunkte und beschließen einige Maßnahmen. Dabei fokussieren wir uns erst einmal auf den Prozess und die Umgebung. Wir fokussieren uns weniger auf die Menschen innerhalb des Prozesses – die handeln wahrscheinlich sowieso nach bestem Wissen und Gewissen. Jede/r setzt Maßnahmen im eigenen Wirkungs- und Einflussbereich um. Wenn jemand fehlt, um eine Entscheidung zu treffen, bitten wir die Person ad hoc dazu oder laden für das nächste Mal ein.
  • Wir halten uns gegenseitig verantwortlich für die Umsetzung der Maßnahmen.

 

Also!

Schaffen wir die unproduktiven Retrospektiven ab und ersetzen sie durch Treffen, in denen wir über echte Verbesserung und deren Umsetzung sprechen! Wir ziehen die dafür notwendigen Personen dazu. Wir sprechen über die Daten, die uns Informationen über die Leistungsfähigkeit geben. Falls wir die nicht haben, darüber, wie wir sie bekommen. Und wir beschließen Maßnahmen, die das Arbeitssystem verbessern statt uns in unserem Team-Dunstkreis zu drehen.

 

Kill your Darlings.

 


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